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Forscherinnen in Kuba: Die Formel für mehr Sichtbarkeit

Unsichtbares sichtbar machen – was die Mathematikerin Lianet De la Cruz Toranzo als Gastwissenschaftlerin an der Bergakademie Freiberg mit hyperkomplexen Zahlen schafft, wünscht sie sich auch für kubanische Wissenschaftlerinnen – und jene, die es werden wollen.

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Porträt Lianet Toranzo de la Cruz
Lianet De la Cruz Toranzo forscht seit Oktober 2022 mit einem Humboldt-Forschungsstipendium bei Professorin Swanhild Bernstein am Institut für Angewandte Analysis der TU Freiberg.

Um den n-dimensionalen Raum zu betreten, in dem sich die hyperkomplexen Clifford-Zahlen befinden, braucht Lianet De la Cruz Toranzo nicht viel. „Stille, Papier und einen Stift – das ist im Grunde alles, was ich für meine Arbeit benötige“, sagt die Humboldtianerin und frühere Professorin für Funktionalanalysis der Universität Holguín. „Und natürlich mein Gehirn und ab und an etwas Fachliteratur.“

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In diesen multidimensionalen Sphären forscht sie als Gastwissenschaftlerin bei Professorin Swanhild Bernstein am Institut für Angewandte Analysis der Fakultät Mathematik und Informatik an der Technischen Universität Bergakademie in Freiberg. „Die hyperkomplexen Zahlen, mit denen ich arbeite, sind nicht im klassischen Sinne sichtbar. Doch sie folgen Regeln und sind auf eine bestimmte Weise aufgebaut, so dass wir sie analysieren und andere Theorien entwickeln können. Die Quaternionen werden etwa in der Quantenphysik verwendet“, so De la Cruz Toranzo. Ihr derzeitiges Ziel: Die sogenannte polymonogene Hardy-Zerlegung der Lipschitz-Funktionen höherer Ordnung im Rahmen der Clifford-Analyse, einem Teilgebiet der höheren Mathematik.

Wir müssen Mädchen am besten schon in der Grundschule für MINT-Fächer begeistern und ihnen vermitteln, dass ihnen eine wissenschaftliche Laufbahn in diesen Bereichen offensteht.
Lianet Toranzo de la Cruz, Mathematikerin und Humboldt-Forschungsstipendiatin

Weibliche Vorbilder für mehr Diversität

Ein wichtiger Wegweiser in ihrer Forschung: „Gibt es eine Symmetrie, ein Muster in dem was ich tue?“ Das fragte sie wiederholt ihr langjähriger Mentor, der Mathematikprofessor Ricardo Abreu Blaya, der derzeit an der Autonomen Universität Guerrero in Mexiko tätig ist. Er war ein wichtiger Impulsgeber auf ihrem Weg in die Wissenschaft. „Bei einem Unterrichtsbesuch in der Oberstufe sprach er über die Mathematik der Planetenbewegung. Das inspirierte mich sehr und ich entschied mich, Mathematik zu studieren.“ Ihr grundlegendes Interesse wurde jedoch schon früher geweckt. „In der neunten Klasse hatte ich Unterricht bei einer Privatlehrerin, die sehr viele Hausaufgaben aufgab. Sie ermutigte uns, selbst zu denken und Lösungen zu finden. Das war anders als im gewöhnlichen Schulunterricht und weckte meine Begeisterung für Mathematik.“

Role-Models gesucht

Insbesondere im MINT-Bereich hält De la Cruz Toranzo weibliche Vorbilder für entscheidend. Zwar seien laut offiziellen Zahlen rund 53 Prozent aller Forschenden in Kuba Frauen, ein genauerer Blick zeige jedoch, dass vor allem Physik und Mathematik männerdominierte Bereiche sind. Genau wie in Deutschland sind klassische Rollenbilder gesellschaftlich tief verankert. Das fängt in der Kindheit an. „Ich durfte als Kind zum Beispiel kein Radfahren lernen, mein Bruder schon. Und bis heute hält sich das Vorurteil, Mathe sei eher nichts für Mädchen oder Frauen,“ erzählt sie. Mit ihrer Karriere als Forscherin und Professorin beweist sie das Gegenteil. „In Kuba ist in mancher Hinsicht die Zeit stehen geblieben. Ich selbst habe das Wort ‚Feministin‘ 2018 zum ersten Mal gehört. Auf meiner ersten Auslandreise im Rahmen eines Forschungsaufenthalts in Spanien. Eine Bekannte ging damals auf eine Demo zum Internationalen Frauentag. Zu dieser Zeit begann ich, mehr über die Themen Feminismus und Patriarchat zu lesen,“ erinnert sich De la Cruz. Für sie steht fest: „Wir müssen Mädchen am besten schon in der Grundschule für MINT-Fächer begeistern und ihnen vermitteln, dass ihnen eine wissenschaftliche Laufbahn in diesen Bereichen offensteht.“

Sichtbarkeit weiblicher Forscherinnen ist der Schlüssel zu einer diversen und chancengerechteren Wissenschaftswelt. Wenn etwas nicht benannt oder gezeigt wird, existiert es in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nicht. Das muss sich ändern.
Lianet Toranzo de la Cruz, Mathematikerin und Humboldt-Forschungsstipendiatin

Kürzlich erhielt die kubanische Virologin María Guadalupe Guzmán Tirado als erste Frau aus dem karibischen Raum den L’Oréal-UNESCO-Preis für Frauen in der Wissenschaft für ihre Forschung zum Denguefieber. „Ich bin mir fast sicher, dass diese Nachricht in kubanischen Schulen nicht besprochen wird“, sagt De la Cruz Toranzo. Für sie ist Sichtbarkeit der Schlüssel zu einer diversen und chancengerechteren Wissenschaftswelt. Denn: „Wenn etwas nicht benannt oder gezeigt wird, existiert es in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nicht. Das muss sich ändern.“

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Neue Impulse durch internationalen Austausch

Durch ihren Forschungsaufenthalt in Freiberg erhofft sich die kubanische Mathematikerin neue Impulse. „Die TU Freiberg ist eine der wenigen Universitäten in Deutschland, die hervorragende Mathematiker*innen in der Clifford‘schen Analysis hat. Zudem sind die Forschungseinrichtungen hier besser als an den meisten kubanischen Universitäten. Die Büros sind gut ausgestattet und wir haben über einen Zugang unseres Instituts freien Zugriff auf wissenschaftliche Zeitschriften.“

Ich komme aus einem Entwicklungsland, in dem internationale Mobilität nur schwer möglich ist. Deshalb weiß ich jede Möglichkeit der Internationalisierung zu schätzen, da sie eine schnellere Entwicklung meiner Forschung und ihrer Verbreitung ermöglicht. Als Humboldt-Stipendiatin profitiere ich zudem sehr von der Vernetzung mit Stipendiat*innen aus anderen Forschungsbereichen.
Lianet Toranzo de la Cruz, Mathematikerin und Humboldt-Forschungsstipendiatin

Laut einer Länderinformation des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) bieten kubanische Hochschulen zwar eine teils hervorragende theoretische Ausbildung, doch aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise kann Forschung mit Bedarf an Geräten und Materialien nur eingeschränkt ausgeübt werden. Hinzu kommt, dass Wissenschaftler*innen für Auslandsreisen noch immer eine Sondergenehmigung benötigen. „Ich komme aus einem Entwicklungsland, in dem internationale Mobilität nur schwer möglich ist. Deshalb weiß ich jede Möglichkeit der Internationalisierung zu schätzen, da sie meine Forschung und ihre Verbreitung beschleunigt. Als Humboldt-Stipendiatin profitiere ich zudem sehr von der Vernetzung mit Stipendiat*innen aus anderen Forschungsbereichen", so De la Cruz Toranzo.

Ihr Humboldt-Forschungsstipendium konnte sie um ein weiteres Jahr verlängern. Nach einem Hackerangriff war die Bergakadamie Freiberg drei Monate offline gewesen. „Das warf mich in meiner Zeitplanung zurück, umso glücklicher bin ich, dass ich hier nun noch länger forschen kann.“ Ihre Pläne bis Ende 2024 abseits der Forschungsarbeit: besser Deutsch und Radfahren zu lernen. „In Freiberg habe ich es geschafft, regelmäßig Radfahren zu üben. Inzwischen unternehme ich bei gutem Wetter an Wochenenden sogar schon kurze Touren.“

Autorin: Esther Sambale

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